Hallo Melanie, stell dich doch bitte kurz vor. Wer seid ihr und was genau macht Momo Medical?
Mein Name ist Melanie, ich bin gelernte Pflegekraft und habe sowohl im Krankenhaus als auch im Pflegeheim gearbeitet. Ich war außerdem mehrere Jahre Vorsitzende im beratenden Pflegevorstand eines Krankenhauses. Dort haben wir gemeinsam strategische Entscheidungen vorbereitet und die Perspektive der Pflege eingebracht.
Seit diesem Jahr bin ich Teil von Momo Medical. Hier unterstütze ich als Beraterin andere Pflegekräfte dabei, die Momo App im Alltag zu verstehen und optimal zu nutzen.
Die App an sich hilft Pflegekräften, die zentrale Frage zu beantworten: „Wer braucht mich gerade und wer nicht?“ Mit einem einfachen Blick auf die Zimmerübersicht sehen Pflegekräfte sofort, wo Unterstützung gebraucht wird. Ganz einfach, ohne Umbaumaßnahmen oder Kameras.
Ihr sitzt in den Niederlanden. Wie würdest du das Pflegesystem in den Niederlanden, insbesondere im Vergleich zu Deutschland, beschreiben? Was ist deiner Meinung nach der größte strukturelle Unterschied?
Ich kenne das deutsche Pflegesystem natürlich nicht so gut wie das Niederländische. Aber von dem, was ich von meinen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland höre, würde ich sagen: Wir sind technologisch auf einem ganz anderen Level.
Ich war ehrlich überrascht, als ich erfahren habe, dass Pflegekräfte in Deutschland teilweise keine eigene E-Mail-Adresse haben. Als ich 2008 in der Pflege angefangen habe, war das bei uns längst selbstverständlich; jede Pflegekraft hatte ihren eigenen Zugang.
Vom Grundgedanken sind sich die Systeme jedoch sehr ähnlich; auch bei uns gibt es meist eine Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Das Pflegepersonal hat verschiedene Ausbildungsniveaus, und wir werden auch von ungelernten Arbeitskräften unterstützt.
In den letzten Jahren haben wir jedoch versucht, uns den Herausforderungen zu stellen und uns so gut wie möglich an die neuen Gegebenheiten anzupassen.
In Deutschland wird Buurtzorg oft als innovatives Vorbild genannt – kleine Pflegeteams, die eigenverantwortlich arbeiten. Warum funktioniert dieses Modell im niederländischen System so gut?
Mein Einblick in Buurtzorg ist natürlich begrenzt, da ich dort nie gearbeitet habe. Aber das Modell wird international als Vorbild gesehen, sogar aus China gibt es großes Interesse.
Der Schlüssel liegt in der Eigenverantwortung der kleinen Teams. Jedes Team organisiert sich selbst, es gibt kaum Hierarchie. Alle übernehmen Verantwortung für ihren Teil der Arbeit und sind dementsprechend auch mehr mit dem Herzen dabei.
Das führt zu hoher Zufriedenheit und sehr geringer Fluktuation.
Außerdem nutzt Buurtzorg viele technische Hilfsmittel, die den administrativen Aufwand deutlich verringern.
Info: Was ist Buurtzorg?Buurtzorg ist ein niederländisches Pflegemodell mit selbstorganisierten, kleinen Pflegeteams. Pflegefachpersonen arbeiten ohne klassische Hierarchien, entscheiden eigenverantwortlich und stellen die Beziehung zum Menschen in den Mittelpunkt. Ziel ist mehr Qualität, Zufriedenheit und Zeit für Pflege. |
In Deutschland wird aktuell viel über das sogenannte „stambulante Modell“ diskutiert, also eine Verbindung von ambulanter und stationärer Pflege. Gibt es in den Niederlanden vergleichbare Ansätze oder Strukturen, die zwischen beiden Welten vermitteln? Und wie ist generell das Verhältnis von ambulant zu stationär bei euch geregelt?
In den Niederlanden wird seit Jahren versucht, mehr ambulante Pflege anzubieten.
Da die Menschen immer älter werden, reicht der Platz in stationären Einrichtungen oft nicht aus. Deshalb liegt der Fokus darauf, die Menschen so lange wie möglich fit zu halten, also Selbstständigkeit statt Abhängigkeit zu fördern.
In den letzten zehn Jahren ist die ambulante Pflege dadurch stark gewachsen und hat an Bedeutung gewonnen.
Ein weiterer Unterschied: Die Zusammenarbeit im Gesundheitssystem funktioniert sehr gut. Ärztinnen und Ärzte kommen oft direkt in die Pflegeeinrichtungen, statt dass die Bewohner:innen dorthin müssen. Das ist keine Ausnahme, sondern gängige Praxis.
Das Ganze steht unter dem Motto:
“Do it yourself, if it’s possible. Do it at home, if it’s possible. Do it digital, if it’s possible.”
– ein Leitsatz aus dem niederländischen integrierten Gesundheitsplan.
Hierzulande klagen Pflegekräfte oft über Zeitdruck, starre Abläufe und Bürokratie. Wie erlebst du die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte in niederländischen Einrichtungen? Was wird dort besser oder anders gemacht?
Auch bei uns gibt es Zeitdruck und Personalmangel. Aber wir versuchen seit Jahren, Lösungen zu finden, vor allem durch bessere Kommunikation zwischen Management und Pflegepersonal. Es wird offen darüber gesprochen, wie Herausforderungen angegangen werden können. Technologie spielt dabei eine immer größere Rolle, aber sie ist nicht die einzige Antwort.
Entscheidend ist, dass die Pflegekräfte in den Niederlanden ihre Stimme gefunden haben. Wir haben gelernt, unsere Wünsche klar zu äußern und für unsere Arbeitsbedingungen einzustehen, das hat lange gedauert, aber nur so konnten wir uns teils von starren Abläufen lösen. Der Berufsverband fasst es schön zusammen: „Nichts über uns – ohne uns.“
Wird die Pflege in den Niederlanden deiner Meinung nach stärker wertgeschätzt, z. B. was Bezahlung, Eigenverantwortung oder Mitsprache betrifft? Und wie sieht es mit der Rolle von Leitungskräften aus: Gibt es dort mehr Vertrauen und Eigenverantwortung in den Teams?
Die Hierarchien sind bei uns insgesamt flacher. Pflegekräften wird mehr Eigenverantwortung übertragen, wobei viele erst lernen müssen, damit umzugehen.
In den Pflegeschulen wird heute verstärkt analytisches und eigenständiges Denken gefördert. Das hilft, Entscheidungen sachlich zu treffen und nicht nur emotional zu handeln.
Leitungskräfte halten etwas mehr Abstand zur direkten Pflege und vertrauen stärker auf die Expertise ihrer Mitarbeitenden. Dieses Vertrauen prägt unsere Zusammenarbeit.
Wie gehen Pflegeeinrichtungen in den Niederlanden mit Personalmangel um? Gibt es Strategien zur Personalgewinnung und -bindung, die du als besonders effektiv erlebst?
Ein zentraler Ansatz ist, dass ältere Menschen länger fit und selbstständig bleiben sollen; das entlastet die Pflege.
Außerdem können Pflegekräfte in vielen Organisationen flexibel zwischen Bereichen wechseln. Wer also Erfahrung in mehreren Abteilungen sammelt, kann bei Engpässen schnell unterstützen.
Moderne Technologien tragen ebenfalls dazu bei, die Arbeitsbelastung zu reduzieren und die Motivation zu stärken. Wichtig ist auch: Pflegekräfte bekommen mehr Verantwortung und an dieser Verantwortung wachsen sie.
Welche Rolle spielen dabei Technik und Digitalisierung? Wie offen sind Pflegekräfte und Pflegeeinrichtungen in den Niederlanden für neue technische Lösungen im Alltag?
Technologie spielt bei uns eine sehr große Rolle, sie ist wahrscheinlich die größte Chance, dem Personalmangel entgegenzuwirken. Viele Einrichtungen setzen inzwischen auf das Konzept des „Smart Nursing Home“. Beispiele sind sprachbasierte Pflegedokumentationen, automatische Medikamentenspender oder Telemedizin. Und natürlich auch wir mit der Momo App😊
In Deutschland ist mit Blick auf die Niederlande oft von Buurtzorg oder Demenzdörfern die Rede – erlebt ihr solche Konzepte in der Praxis? Wie funktionieren sie?
Diese Konzepte sind zweifellos wertvoll und helfen vielen Menschen. Trotzdem finde ich, dass wir vorsichtig sein sollten, sie als ultimative Lösung zu betrachten. Denn es besteht die Gefahr, dass Menschen mit Demenz dadurch von der Gesellschaft ausgeschlossen werden.
Ich wünsche mir stattdessen, dass wir Wege finden, sie stärker einzubinden, also zu integrieren statt zu isolieren.
Wenn ihr eine Sache aus den Niederlanden sofort nach Deutschland übertragen könntet – was wäre das?
Ich würde mir wünschen, dass Pflegekräfte in Deutschland mutiger ihre Wünsche und Forderungen äußern. Es braucht Geduld und Ausdauer, aber es lohnt sich immer, für sich selbst und den eigenen Beruf einzustehen. Denn ihr seid die Expert:innen und ihr wisst am besten, was die Arbeit erleichtert und was den Bewohner:innen hilft.
Und umgekehrt: Gibt es etwas, das in Deutschland besser läuft?
Mir gefällt, dass junge Menschen in der deutschen Pflegeausbildung früh viele Praxiserfahrungen sammeln. Eine stärker praxisorientierte Ausbildung würde uns in den Niederlanden ebenfalls guttun. Sie würde sicher dazu beitragen, dass weniger Pflegekräfte nach der Ausbildung den Beruf verlassen. Da sie nicht von dem tatsächlichen Pflegealltag „überrascht“ werden.
Tipp: Einen weiteren internationalen Vergleich bietet das Interview zur Pflege in der Türkei. Der Beitrag zeigt, wie stark dort Familie, Kultur und Aufgabenverteilung den Pflegealltag prägen – und setzt damit einen bewussten Gegenpol, zu den stärker strukturierten und technikorientierten Ansätzen in den Niederlanden.